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Transformation und die (Wieder‑) Einbettung von Marktkräften, Unternehmertum und Technologieentwicklung 

Aktualisiert: 6. März

Die zentralen Herausforderungen unserer Zeit, die weltweite Armut, wachsende soziale Ungleichheiten, Friedenssicherung und die Zerstörung unserer natürlichen Lebensgrundlagen, sind eng miteinander verknüpft und müssen gemeinsam gelöst werden. Dies hat Papst Franziskus in seiner im Jahr 2015 veröffentlichten Enzyklika Laudato si’ deutlich gemacht. Er drängt auf eine umfassende Problemanalyse und eine neue Idee von Fortschritt, die Zukunft hat und ermöglicht. 


De-Globalisierung als fragwürdiges Konzept  

Bei den genannten Herausforderungen handelt es sich um global interdependente Probleme, die nur in gemeinsamer Verantwortung und Anstrengung bewältigbar sind. Armut und Unterentwicklung untergraben in den davon betroffenen Ländern nicht nur den gesellschaftlichen Zusammenhalt, die politische Stabilität und damit auch die Fähigkeit, sich gegen globale Krisen (Finanzen, Umwelt oder Gesundheit) zu schützen oder an veränderte Bedingungen anzupassen. Sie sind auch wesentliche Ursachen für die Armuts- und Arbeitsmigration oder ungebremsten Bevölkerungszuwachs in vielen Ländern. Armut und Unterentwicklung bilden auch den Nährboden für grenzüberschreitend organisierte Kriminalität, Stellvertreterkriege und den internationalen Terrorismus, was Sicherheit und Frieden in anderen Regionen und weltweit erheblich bedroht. In einer immer volleren Welt, in der neben einer weiter wachsenden Weltbevölkerung die Zahl der Nutztiere noch deutlich stärker steigt, steigt schließlich auch die Gefahr von mehr und sich schneller ausbreitenden Pandemien. All dies zeigt, wie unmittelbar die immer engeren weltweiten Verflechtungen, Wechselwirkungen und Abhängigkeiten auch uns verwund bar machen und wir zu einer weltweiten Schicksalsgemeinschaft geworden sind. De-Globalisierung ist von daher keine Lösung, denn kein Nationalstaat ist mehr in der Lage, global interdependente Probleme alleine zu lösen. Dies gilt auch für den Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft, der erforderlich ist, um "unser gemeinsames Haus”[1] zu erhalten, eine nachhaltige Entwicklung und die Globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs) zu befördern 


Renaissance der Systemfrage 

Eine grundlegende Voraussetzung dafür ist es, bis spätestens Mitte dieses Jahrhunderts in einer Nettobetrachtung keine Treibhausgase mehr zu emittieren. Weniger Einigkeit besteht bei der Frage, welche Rolle Marktwirtschaft und Demokratie bei der notwendigen Transformation spielen können bzw. sollen. Deshalb ist der althergebrachten Systemfrage (wieder) mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts von einigen vermeintlich für beantwortet betrachtet, erlebt diese nun im Zuge der Debatte um eine sozial-ökologische Transformation eine Renaissance. Aufgrund des Versagens von Märkten, wachsende soziale Ungleichheiten und die Überschreitung vieler planetarer Grenzen einzudämmen, aber auch durch den Aufstieg Chinas und anderer Schwellenländer, gerät der Westen mit seinen Leitwerten von Demokratie, Menschenrechten und Marktwirtschaft in die Defensive. Eng mit der System frage verknüpft ist die Einschätzung, welche Bedeutung technologische Innovationen für eine nachhaltige Entwicklung spielen. Denn diejenigen, welche die Marktkräfte eher als Ursache denn als Teil der Lösung für soziale Verwerfungen, Umweltzerstörung und Klimawandel ansehen, stehen häufig auch technologischen Innovationen skeptisch gegenüber. Sie fürchten, dass diese die sozialen Ungleichheiten und die Entfremdung des Menschen von seiner Umwelt noch befördern. Zudem vernachlässigen viele, dass das Marktversagen beim Schutz von Gemeingütern in vielen Bereichen durch Politikversagen noch weiter verschärft wird. Nationalstaaten sind nämlich oft nicht willens oder fähig, geeignete Rahmenbedingungen zu gewährleisten bzw. internationale Vereinbarungen zu erfüllen, weil sie sich dadurch kurzfristige Vorteile versprechen.  


Zur bleibenden Bedeutung von Karl Polanyi 

Referenzpunkt der Transformationsforschung ist seit einigen Jahren Karl Polanyi und sein Hauptwerk The Great Transformation von 1944, vor allem nachdem der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU) in seinem Plädoyer für einen Gesellschaftsvertrag Polanyi als Vordenker für die notwendige Große Transformation im 21. Jahrhundert vorstellte. Daraus entwickelte sich eine Debatte, ob die Bezugnahme auf Polanyi nicht selektiv sei oder sich lediglich auf “die rhetorische Figur der ‚Großen Transformation‘” [2] beschränke, ohne der Intention und den zentralen kapitalismuskritischen Thesen von Polanyi gerecht zu werden. Wie immer man die Rezeption von Polanyi durch den WBGU im Einzelnen bewertet [3], sollte man die Kapitalismuskritik von Polanyi nicht voreilig als Absage an Markt und Wettbewerb für die notwendige Transformation in der Zukunft werten. Denn angesichts der Erfahrungen zweier Weltkriege in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wollte Polanyi die Gründe für “Aufstieg und Niedergang der Marktwirtschaft“ untersuchen und damit begreiflich machen, warum die europäische Zivilisation nach einem “nie dagewesenen Phänomen, nämlich einem hundertjährigen Frieden, der von 1815 bis 1914 dauerte” [4], in Faschismus und Sozialismus mündete. Genau darin aber könnte der Wert der historischen Betrachtungen von Polanyi für die erforderliche Gestaltung der Globalisierung im 21. Jahrhundert liegen. Denn auch heute schwächt der Aufstieg des politischen Populismus, der von materiellen und ideellen Verlustängsten profitiert und diese deshalb gezielt verstärkt, mit seinen verlockend einfachen, gern nationalistisch geprägten Antworten die globale Zusammenarbeit und die bereits fragilen supranationalen Organisationen deutlich. Vor diesem Hintergrund seien wenige Impulse für die erforderliche Gestaltung der Zukunft skizziert, die sich aus einer Re-Lektüre von Polanyis Überlegungen gewinnen lassen. Einen interessanten Hinweis bietet Polanyis zentrale These, die Gesellschaftsgeschichte des 19. Jahrhunderts und damit den Siegeszug der industriellen Revolution als Ergebnis einer Doppelbewegung zu interpretieren: “Das Laissez-faire wurde geplant, die Planung selbst aber nicht.” [5] Diese überraschende Einsicht und Mahnung zu vorausschauender Bildungs- und Ordnungspolitik könnte wertvolle Anregungen geben für die erforderlichen Gestaltungsaufgaben der Zukunft – vor allem auch, wenn man dies mit dem Plädoyer von Polanyi für eine Wieder-Einbettung (embedding) von Märkten und Unternehmertum in die Gesellschaft verbindet. Bei aller scharfen Kritik, die Polanyi an der Kommodifizierung von Arbeit, Boden und Geld und der daraus resultierenden Entfremdung des Menschen in einer Marktgesellschaft äußert, verkennt er keineswegs die Bedeutung von Märkten und privatwirtschaftlichen Unternehmen für eine gedeihliche Entwicklung der Einzelnen wie der Gesellschaft. Dazu müssen diese laut Polanyi jedoch eingebettet werden in eine Ordnung, die nicht einfach Markt und Wettbewerb sichert, sondern normative Ziele befördert, nämlich soziale Entwurzelung und kulturelle Entfremdung zu überwinden sowie demokratische Beteiligung und Mitbestimmung zu gewährleisten. Eine Aufgabe, bei der die europäischen Staaten Polanyi zufolge im 19. und 20. Jahrhundert sträflich versagt haben. 


Gemeinwohlorientierung und Verursacherprinzip bzw. Kosteninternalisierung 

Auch wenn Polanyi sich selbst als “demokratischen Sozialisten“ bezeichnete, war er mit seinen Vorstellungen den normativen Leitideen ordolibera er Denker wie Alexander Rüstow und dessen “Vitalpolitik” oder Walter Eucken mit seiner Idee einer dem Menschen gemäßen Ordnung näher als einer fundamentalen sozialistischen Marktkritik. Zudem ist eine Nähe zu den Maßstäben der aufkommenden Katholischen Soziallehre unverkennbar. Denn Polanyi erachtete nicht nur eine Einbettung von Märkten für notwendig, sondern gleichermaßen auch von technologischen Entwicklungen. Für die jeweils notwendige Einbettung gibt er eine klare normative Orientierung, nämlich das Wohl der Einzelnen und der Gesellschaft zu mehren. Für Polanyi waren die “geistigen Hauptanstöße der Industriellen Revolution … die Entdeckungen auf soziologischem Gebiet und nicht die technischen Erfindungen” [6]. Konkret kritisierte er den Anspruch naturalistisch orientierter Sozialwissenschaftler, “ein für die Gesellschaft ebenso [nach dem Vorbild der Newtonschen Gesetze, Anm. JW] allgemeingültiges Gesetz zu entdecken” [7]. Stattdessen sieht er die Notwendigkeit, Marktkräfte und technologische Innovationen normativ einzubetten, um einer Zerstörung des “Glück[s] des einzelnen und der Gesellschaft”[8] entgegenzuwirken. Eine solche Einbettung von Marktkräften und technologischen Innovationen ist wohl auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts die zentrale Herausforderung für die erforderliche sozial-ökologische Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft [9]. Dafür braucht es einen geeigneten sozialökologischen Ordnungsrahmen, der die Marktkräfte “einbettet” und Richtung Nachhaltigkeit lenkt. Grundvoraussetzung dafür ist, dass die sozialen und ökologischen Kosten, welche Produktion und Konsum verursachen, nicht weiter externalisiert, sondern von den Verursachern getragen werden. Dann lässt sich redlich dafür werben, dass die Vision einer gerechten und ökologisch fundierten Gesellschaft mit der Innovationskraft von Unternehmen und einer marktlich verfassten Volkswirtschaft verbunden sein kann und technologischer Fortschritt nicht mit Kontrollverlust und Monopolrendite einhergehen muss. 


Suffizienz, Lebensqualität mit kultureller Einbettung  

Gleichwohl werden Vermögenswerte der “alten fossilen Welt”, wie der Besitz von Kohle- oder Erdölvorkommen, Verluste erleiden und letztlich ganz verloren gehen, weshalb Fachleute von “stranded assets” der Transformation sprechen. Deshalb ist eine Politik der sozial-ökologischen Modernisierung sozialverträglich abzufedern und durch einen tiefergreifenden Kultur-, Bewusstseins- und Wertewandel hin zu ganzheitlicheren Vorstellungen von Lebensqualität und mehr Gemeinwohlorientierung grundzulegen, zu ergänzen und zu begleiten [10]. Dafür steht die Leitidee der Suffizienz, die ein gutes Leben nicht vom “immer mehr und billiger”, sondern von der Tugend des rechten Maßes her versteht und gerade auch die “unbezahlbaren” Dinge wertschätzt. Polanyi nennt als maßgeblich für das “Glück des einzelnen und der Gesellschaft … sein gesellschaftliches Sein, seine nachbarschaftlichen Beziehungen, seine Geltung in der Gemeinschaft, seinen Beruf, kurz gesagt, jenes Verhältnis zur Natur und zu den Menschen, in das seine wirtschaftliche Existenz früher eingebettet gewesen war” [11]. Große inhaltliche Schnittmengen zu den aristotelischen Vorstellungen eines guten Lebens, die über Thomas von Aquin auch das Gemeinwohl-Denken und Konzepte integraler Entwicklung [12] der Katholischen Soziallehre mitgeprägt haben, sind offensichtlich. Wenn heute manche mit durchaus guten Gründen eine Internationalisierung der um die ökologische Dimension erweiterte Soziale Marktwirtschaft fordern, gerät leicht in Vergessenheit, dass diese als “Rheinischer Kapitalismus” ein Wirtschaftsstil mit spezifisch kulturellen Grundlagen und Hintergründen ist. Deshalb ist diese Vorstellung ohne gemeinsam geteiltes Wertefundament nicht einfach ein Leitbild dafür, um global die notwendige Einbettung von Märkten und technologischer Entwicklung zu gewährleisten. Umso wichtiger wird es sein, dafür auch Anknüpfungspunkte zu Traditionen und Quellen anderer Kulturen und Religionen aufzuzeigen. Denn eine Verständigung gemeinsam geteilter Werte zu erzielen, ist angesichts der mit der Globalisierung verbundenen Pluralisierung und Fragmentierung von Wertvorstellungen alles andere als einfach. Denn die genannten Orientierungen für die Einbettung von Märkten und technologischer Entwicklung sind alle in bestimmten kulturellen Kontexten entstanden und an diese zurückgebunden. Vor diesem Hintergrund sollen die folgenden Beiträge verschiedene Aspekte dieser großen sozial-ökologischen Transformation beleuchten. Sie sollen zum Nachdenken, Widersprechen, Weiterdiskutieren und nicht zuletzt zum gemeinsamen Handeln anregen – denn die mit dem notwendig Wandel verbundenen Herausforderungen können nur in gemeinsamer und differenzierter Verantwortung gemeistert werden.



 

Prof. Dr. Johannes Wallacher ist seit 2006 Professor für Sozialwissenschaften und Wirtschaftsethik an der Hochschule für Philosophie in München und seit 2011 Präsident der Hochschule. Seit dem 1. September 2021 ist er zudem Akademischer Leiter und Stiftungsvorstand der Bayerischen Elite-Akademie


 

Quellen 

  1. Papst Franziskus

  2. Göpel, Maja/Remig, Moritz (2014): Vordenker einer nachhaltigen Gesellschaft. Karl Polanyi und die ‚Große Transformation‘, in: GAIA 23/1, 70–72.

  3. Finkbeiner, Florian(2014): Das widersprüchliche Erbe Karl Polanyis, auf: https://soziologieblog.hypotheses.org/7640

  4. Polanyi, Karl (1978): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, (Frankfurt/M.) [Wien 1944].

  5. Ebd., 195.

  6. Ebd., 167.

  7. Ebd., 160.

  8. Ebd., 180.

  9. Kommission Weltkirche der Deutschen  Bischofskonferenz (Hrsg.) (2021): Wie sozial-ökologische Transformation gelingen kann, Bonn.

  10. Ebd., 18.

  11. Polanyi, Karl (1978): The Great Transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen, (Frankfurt/M.) [Wien 1944].

  12. Müller, Johannes/Wallacher, Johannes (2007): Vierzig Jahre Populorum Progressio. Ein Meilenstein auf dem Weg zu einer weltweiten Soziallehre, in: Stimmen der Zeit 225, Nr. 3, 168–180. 


Dieser Artikel erschien in Amos International 17. Jahrgang Heft 3 2023.




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