Im Gespräch mit Frau Prof. Doris Fuchs diskutieren wir das Spannungsfeld von individueller Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Wie können wir die Notwendigkeit und Legitimität von Konsumgrenzen begründen und was braucht es, damit wir unsere gegenwärtigen Konsumgesellschaften und individualisierten Freiheitsverständnisse transformieren können?
Zum Spannungsfeld von Freiheit und Gerechtigkeit
Entlang verschiedener öffentlicher Diskurse, etwa der Bezeichnung der Partei die Grünen als “Verbotspartei”, lässt sich aktuell sehr gut die Gegenüberstellung und scheinbare Unvereinbarkeit von nachhaltigem Konsum und individueller Freiheit beobachten. Wie ordnen Sie diese gegenwärtigen Debatten im Spannungsfeld von Freiheit und Gerechtigkeit ein?
Aus meiner Sicht geht es hierbei tatsächlich auch um einen populistischen Stimmenfang, denn die Argumente, die oftmals in Bezug auf „Freiheit“ angeführt werden, sind sehr verkürzt. Im Kontext dieser Debatten wird ein sehr vereinfachter und individualisierter Freiheitsbegriff ins Land geführt. Es geht alleinig um ein so viel wie möglich und das auch nur aus der Perspektive des Individuums, wodurch der Eindruck entsteht, dass es einen Konflikt mit Gerechtigkeit gibt. Tatsächlich gehen aber Freiheit und Gerechtigkeit Hand in Hand und zwar auf vielen Ebenen. Denn eine Freiheit haben wir nur, soweit sie nicht die Freiheit anderer einschränkt. Insofern Gerechtigkeit von Recht kommt, bedeutet dies eben auch, dass der Freiheit der Einzelnen Grenzen gesetzt werden müssen. Auch die Freiheit, die wir aktuell erleben, können wir nur leben, weil es Grenzen gibt. Ein banales Beispiel ist immer der Straßenverkehr: wir haben eine Straßenverkehrsordnung, die unsere Freiheit so zu fahren, wie wir sonst vielleicht fahren wollen würden, begrenzt, aber diese Begrenzung dient dann der Sicherheit von allen.
Die Notwendigkeit der Grenzen von Freiheit in Gesellschaften
Inwiefern lässt sich das Freiheitsverständnis individueller grenzenloser Freiheit als problematisch kritisieren?
Also zum einen ist ein solcher Individualismus, der auf möglichst wenigen staatlichen Einschränkungen im privaten Leben beruht, ein sehr spezifischer Freiheitsbegriff, der noch nicht mal innerhalb der liberalen Tradition der einzig mögliche Freiheitsbegriff ist. Ein solcher Freiheitsbegriff ist vielmehr in der Verfolgung wirtschaftlicher Interessen (vor allem der ökonomischen Eliten) betont worden, sodass es dem Anschein nach rein um grenzenlose Konsumfreiheit des Individuums geht. Dieses Verständnis würde angeblich unsere Gesellschaft mit konstituieren. Tatsächlich ist es aber so: sobald wir uns in einer Gemeinschaft organisieren, wird sofort klar, dass die Freiheit des Einzelnen begrenzt sein muss, wenn ein Zusammenleben in Frieden und Gemeinschaft möglich sein soll. Wir haben uns als Menschen in Gemeinschaften zusammengeschlossen, um gemeinsame Ziele zu verfolgen, die wir allein nicht verfolgen können - ob das jetzt Sicherheit ist, ob das Versorgung ist. Daraus ergibt sich, dass es die Kernaufgabe des Staates ist, Regelungen zu setzen, die diese Verfolgung der gemeinsamen Ziele sicherstellen. Diese Regelungen haben immer mit Freiheitsbegrenzungen zu tun, zu denen übrigens auch der Schutz der klassischen grundrechtlichen Freiheiten gehört. Daher sind solche Regelsetzungen etwas, was wir eigentlich aus allen Lebensbereichen kennen. Nur in unserer Konsumwelt liegt jetzt ganz besonders diese Betonung auf der individuellen Freiheit der Konsument*innen. Dass ich als Konsument, als Konsumentin alles konsumieren können soll und darf, was ich mir leisten kann, verfehlt den Blick für die Auswirkungen auf die Gemeinschaft. Die Auswirkungen unseres Konsums sind uns aber mittlerweile angesichts der Überschreitungen unserer planetaren Grenzen ganz klar geworden: angesichts begrenzter Ressourcen hat mein Konsum Auswirkung auf andere, auf die Chancen auf ein gutes Leben für andere, auf die Handlungsfähigkeit und die Freiheit anderer. Deshalb müssen wir Konsum eben auch im Kontext der Frage von Grenzen für die Gemeinschaft denken.
Welches Freiheitsverständnis braucht es Ihrer Ansicht nach stattdessen? Wie hängt dies mit Ihrem Konzept der Konsumkorridore zusammen?
Wir brauchen ein Freiheitsverständnis, das nicht nur quantitativ ist, d.h. dass Einzelne möglichst viele Entscheidungsoptionen haben. Für ein qualitatives Freiheitsverständnis müssen wir uns vielmehr fragen, ob das die richtigen Entscheidungsoptionen sind. Wie passen diese mit der Einhaltung der Menschenwürde zusammen, mit Grundfragen der Gerechtigkeit, mit der Erhaltung von Freiheit gemeinsam gesellschaftliche Ziele, z.B. in Bezug auf die Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft zu verfolgen? Insofern brauchen wir auch einen Freiheitsbegriff, der immer schon die Frage der ökologischen Grenzen mitdenkt. Einen solchen integrativen Begriff haben beispielsweise Tobias Gumbert und Carolin Bohn mit der Idee der Grünen Liberalen Freiheit entwickelt: Freiheit muss vor dem Moment begrenzt werden, an dem wir beginnen, die natürlichen Grundlagen des Lebens zu zerstören.
Das Konzept der Konsumkorridore geht nun von zwei zentralen Dingen aus: Erstens hat jeder Mensch, weil er oder sie Mensch ist, grundsätzliche Bedürfnisse, die man befriedigen können muss, um ein menschenwürdiges, ein gutes Leben zu leben. Das ist eine normative Setzung. Wenn wir diese Setzung ernst nehmen und wir gleichzeitig in einer Welt mit begrenzten Ressourcen leben, müssen wir neben dem Minimum an Konsum (der Bedürfnisbefriedigung) auch über ein damit notwendigerweise verbundenes Maximum des Konsums nachdenken. Denn wenn ich eine Grenze überschreite, bei der mein Konsum dazu führt, dass andere nicht mehr ihr notwendiges Konsumminimum erreichen können, dann verletze ich Gerechtigkeitsprinzipien. Und ich verstoße auch gegen Freiheit in Bezug auf die Wahrung der Handlungsfähigkeit Anderer und das meint auch eine Handlungsfähigkeit künftiger Generationen. Insofern sagt das Konzept der Konsumkorridore, dass wir ein Konsumminimum, aber auch ein Konsummaximum brauchen. Innerhalb dieses Korridors habe ich die Möglichkeit, ein nachhaltiges und gutes Leben zu leben und frei zu sein. Hier wird Freiheit zusammen gedacht: eben mit Grenzen beziehungsweise mit der Frage der Suffizienz, des Genug, in zweifacher Hinsicht: genug für mich und genug für alle Anderen.
Inwiefern und auf welche Weise müssen die Korridore des Konsums als eine Form der normativen Setzung im gesellschaftlich-demokratischen Diskurs zunächst verhandelt werden?
Die normative Setzung, die ich am Anfang gemacht habe, ist, dass jeder Mensch, der jetzt oder in Zukunft lebt, die Chance haben soll, ein gutes Leben zu leben. Dies gilt in Bezug auf die Befriedigung der geschützten Bedürfnisse. Alles andere wird daraus entwickelt. Für die Entwicklung und Verhandlung der Korridore braucht es die Akzeptanz dieser Setzung. Mit jemandem, dem es egal ist, ob andere oder auch zukünftige Generationen mal ein gutes Leben leben können, ist es schwer über Konsumkorridore zu verhandeln. Wenn wir aber mit allen, die diese Setzung akzeptieren, denen es wirklich darum geht, dass unsere Kinder und Kindeskinder überall auf der Welt die Chancen haben sollen, ein gutes Leben zu leben, darüber reden, was das dann impliziert – dann kommen wir nicht darum herum, über Konsumgrenzen zu reden.
Das heißt aber auch, dass es ein Mindestmaß an normativ Geteiltem braucht, um überhaupt über die Grenzen und ihre konkrete Grenzziehung zu verhandeln?
Genau, es braucht ein Mindestmaß an normativ Geteiltem, wobei dieses ganz grundsätzlich in der Anerkennung der Würde des Menschen liegt. Der normative Grundkonsens, den es braucht, ist erstmal sehr klar und begrenzt. Alles andere ergibt sich daraus, das heißt jedoch nicht, dass es automatisch verfolgt wird. In dem Moment, wo ich mit jemandem übereinstimme, dass jeder Mensch das Recht und die Möglichkeit haben soll, ein gutes Leben zu leben, braucht es einen gesellschaftlichen Dialog darüber, was die Bedürfnisse sind, die wir für schützenswert halten und was das für das Konsumminimum und -maximum impliziert. Politik kann also Korridore des Konsums nicht einfach verordnen, sondern sie müssen das Resultat gemeinschaftlicher Selbstbegrenzung sein. Das Konzept der Konsumkorridore erlaubt es dabei auch die grundlegenden Bedürfnisse und Mittel zur Befriedigung dieser Bedürfnisse in der Debatte, im gesellschaftlichen Dialog getrennt zu betrachten. So wird die Befriedigung des Bedürfnisses nach gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und politischer Teilhabe in der Regel ein gewisses Maß an Mobilität erfordern, diese Mobilität muss aber nicht zwingend mit der Nutzung eines Autos verbunden sein.
Transformation unserer Konsumgesellschaften gelingend gestalten
Wo sehen Sie gegenwärtig die größten Hindernisse der Transformation unserer Konsumgesellschaft?
Ich glaube tatsächlich, dass die großen Hindernisse im Moment noch vor den Verhandlungen von Konsumkorridoren, bzw. den Dialogen dazu liegen. In dem „EU 1.5° Lifestyles“ Projekt, das von der Europäischen Union gefördert wird und das ich gerade koordiniere, haben wir uns mit strukturellen Barrieren zum Lebensstilwandel beschäftigt und festgestellt, dass die größte strukturelle Barriere die undifferenzierte Verfolgung des Wachstumsparadigmas in allen wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereichen ist. Gleichzeitig geht ein großer Einfluss von den sogenannten “Vested Interests” der Akteure, die im gegenwärtig nicht-nachhaltigen System, in dem wir leben, mächtig geworden sind, aus. Sie profitieren von diesen nicht nachhaltigen wirtschaftlichen, politischen, technologischen und gesellschaftlichen Strukturen und wollen diese daher auch nicht ändern. Die existierende soziale und ökologische Ungerechtigkeit ist insofern auch eine Frage der ungleichen Verteilung politischen Einflusses und zeigt sich in der weiterhin bestehenden mangelnden Internalisierung von ökologischen und sozialen Kosten im gegenwärtigen ökonomischen System.
All das steht dem entgegen, dass wir überhaupt dahin kommen, uns etwa mittels Bürger*innenräten, auf allen Regierungsebenen darüber zu unterhalten, wie Konsumgrenzen aussehen könnten, damit wir das gute Leben für alle sicherstellen können. Allein hierfür gibt es schon so viel Widerstand, denn dies impliziert tatsächlich eine Umstellung, wie wir konsumieren, wie wir produzieren - und zwar bezogen auf unsere sozialen und ökonomischen Systeme. Die Frage ist also, wie wir überhaupt zu dem Punkt kommen, einen solchen Dialog zu führen. Erschwerend kommt noch hinzu, dass wir in einer medialisierten Welt in unseren Kommunikationsblasen leben, in denen wir, von Algorithmen getrieben, in erster Linie zu immer mehr Konsum angeregt werden. Daher ist es letztlich die Frage, wie man hier mit einer anderen Message dazwischenkommt.
Genau daher braucht es Strategien, die auf das gemeinsame Erreichen einer besseren Welt für alle fokussieren. Dabei gilt es, sozial-ökologische Gerechtigkeit im Kern aller Nachhaltigkeitsstrategien zu verankern. Wir müssen ganz klar benennen und in unseren Anstrengungen berücksichtigen, was am Status Quo ungerecht ist, sei es der überproportionale Beitrag der wohlhabenden Bevölkerungsteile zum Klimawandel bei gleichzeitiger Vergesellschaftung der Kosten, oder auch die politische Priorisierung bestimmter Interessen vor dem Gemeinwohl. Dem können wir die Vision einer Welt gegenüberstellen, in der es den Einzelnen wir auch der Gemeinschaft gesundheitlich, emotional und sozial besser geht als in unseren gegenwärtigen beschleunigten und individualisierten Konsumgesellschaften. Über diese Vision müssen wir in einen breiten gesellschaftlichen Dialog treten und damit auch dem populistischen gegeneinander Ausspielen von Interessen und der Abschottung in Kommunikationsblasen etwas entgegensetzen. Es wird also sicher nicht leicht, die Hürden, die uns im Weg stehen, zu überwinden und systemische Veränderungen gelingend zu gestalten, aber wir sollten uns auch nicht entmutigen lassen!
Diese Interview wurde von Sarah Ruf geleitet. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl Intercultural Social Transformation an der Hochschule für Philsophie München.
Frau Prof. Doris Fuchs ist Direktorin am Forschungszentrum für Nachhaltigkeit - Helmholtz Zentrum Potsdam (RIFS) und Inhaberin der Professur für Nachhaltige Entwicklung.
Weiterführende Literatur
Becker, Lea, und Doris Fuchs. 2023. Freiheit, ja – aber welche? Zum Verhältnis zwischen Freiheit, Gerechtigkeit und einem guten Leben. AMOS International 17(3): 14-20.
Fuchs, Doris, Marlyne Sahakian, Tobias Gumbert, Antonietta Di Giulio, Michael Maniates, Sylvia Lorek und Antonia Graf. 2021. Consumption Corridors: Living Well within Sustainable Limits. London: Routledge. https://doi.org/10.4324/9780367748746.
Gumbert, Tobias/Bohn Carolin/Fuchs Doris/Lennartz Benedikt (2022): Demokratische Nachhaltigkeitspolitik im Anthropozän, in: Christian J. Müller (Hrsg.), Demokratie und Nachhaltigkeit: Aktuelle Perspektiven auf ein komplexes Spannungsverhältnis, 1. Auflage, Baden-Baden: Nomos Verlag, S. 9-37.
Comentários