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Thomas Steinforth

Philosophie und Klärschlamm

Aktualisiert: 17. Juni

Spätestens seit der mittelalterlichen Scholastik und ihrer Unterscheidung von Materialobjekt und Formalobjekt hat die Philosophie in ihrer Themenwahl gleichsam freie Bahn: Während sich andere Wissenschaften jeweils bestimmten Materialobjekten zuwenden, also spezifizierte Gegenstandsbereiche erforschen, kann der Philosophie schlechthin alles zum Thema werden – sie ist hinsichtlich ihres Materialobjekts nicht begrenzt. Nicht ein besonderes Materialobjekt macht die Philosophie zur Philosophie, sondern ein spezifisches Formalobjekt – also die Rücksicht, unter der sie ihre Objekte in den Blick nimmt und befragt. Worin nun die spezifisch philosophische Fragerücksicht besteht, ist wie vieles in der Philosophie umstritten. 





  • In der antiken Philosophie – etwa in Platons Dialog Parmenides – wird über den ontologischen Status schlechthin wertlos erscheinender und unangenehmer Objekte diskutiert. Als deren Extremfall wird der Kot angeführt. Kann diesem sinnlich wahrnehmbaren Phänomen tatsächlich eine Idee entsprechen, wie es der platonischen Ideenlehre zufolge eigentlich sein müsste?

  • Im philosophischen Nachdenken darüber, was der Mensch als Mensch sei, kann gerade die übliche Ausblendung natürlicher Phänomene, die doch mit dem menschlichen Leben untrennbar verbunden sind (etwa der häufige Vorgang der Defäkation) dazu herausfordern, den Menschen nicht ausschließlich als denkendes und sprechendes Wesen zu sehen, sondern als ein Lebewesen, das sich auch in leiblich-sinnlichen Vollzügen realisiert. Zu diesen zählt nicht zuletzt der beständige Austausch mit der Umwelt durch Aufnahme, Einverleibung, Verarbeitung und Ausscheidung unterschiedlicher Stoffe. Hegel z.B. deutet die Defäkation als „abstraktes Abstoßen seiner von sich selbst“ und als notwendigen Aspekt dieser Austauschprozesse, in denen sich die „Selbstheit“ des Organismus beständig konstituiert – und er stellt die Defäkation in einen Zusammenhang mit dem von ihm sogenannten Bildungs- und Kunsttrieb. Allerdings wäre er wohl doch erstaunt, dass die Defäkation im 20. Jahrhundert eine „Merda d’artistahervorbringen kann…

  • Spätestens seit der 1929 publizierten phänomenologischen Studie von Aurel Kolnai über den Ekel gibt es eine lebhafte philosophische Debatte zu dieser mächtigen, auch körperlich intensiv erlebten Emotion. Nicht wenige Menschen würden wohl bereits beim Gedanken daran, in Kontakt mit Klärschlamm zu geraten oder sich gar in einen sogenannten „Faulturm“ einer Kläranlage begeben zu müssen, innerlich schaudern und die üblichen Expressionen zeigen – vom Verziehen des Gesichts über das Sich-Schütteln bis hin zum Würgereiz. Aber warum genau ekeln uns bestimmte Objekte mehr als andere (übrigens individuell und kulturell durchaus unterschiedlich) und als was bzw. in welcher Bedeutsamkeit erscheinen sie uns, wenn wir uns ekelnd auf sie beziehen – worin also besteht der spezifische intentionale Gehalt des Ekels? Die biologisch-funktionale Erklärung des Ekels als Warn- und Schutzinstrument gegen Vergiftung und Infektion ist nicht falsch, wird aber doch der Fülle und Komplexität des phänomenalen Erlebens kaum gerecht. So wird etwa diskutiert, ob wir im Ekel nicht bestimmte Objekte als etwas wahrnehmen, dass uns in bedrängender Weise an oft verdrängte Aspekte unserer Kreatürlichkeit und Animalität erinnert oder auch – insofern es sich oft um „Abfallprodukte“ des Lebens handelt – an die eigene Sterblichkeit. Für den erwähnten Kolnai sind übrigens insbesondere Prozesse und Produkte des Faulens Gegenstand des Ekels – warum und inwiefern genau: Auch darüber ließe sich anhand der Vorgänge in einem Klärwerk trefflich nachdenken.


Allerdings: Um diese oder weitere philosophische Zugänge geht es im genannten Forschungsprojekt nicht oder doch nur im Hintergrund. Hier ist primär die ethische Perspektive gefragt. Klärschlamm ist nämlich einerseits ein großes Problem, enthält er doch Stoffe, die insbesondere in höherer Konzentration für die Umwelt und für den Menschen gefährlich sind. Dazu zählen nicht zuletzt viele schädliche Chemikalien oder auch Medikamente, die seit Jahrzehnten im Alltagsleben Einzug gehalten haben, über Abflüsse vermeintlich entsorgt werden und an anderer Stelle (z.B. der Kläranlage) große Sorgen bereiten.


Andererseits ist der Klärschlamm sehr wertvoll: Er enthält Stoffe, die dringend wieder in natürliche Kreisläufe zurückgeführt werden müssen wie z.B. überlebenswichtigen und weltweit knapper werdenden Phosphor. Übrigens hat es bereits Hegel beschäftigt, dass die Exkremente des Menschen keinesfalls wertlos sind, sondern z.B. Phosphor enthalten.  Zugleich lässt sich Klärschlamm energetisch nutzen, indem er z.B. für die Produktion von Biogas eingesetzt wird, mit dem sich klimaneutral Strom und Wärme erzeugen lassen. Dazu sind allerdings keineswegs triviale Voraussetzungen notwendig, die ihrerseits Fragen aufwerfen. Nur eine sei genannt: Die flexible, nachfrageorientierte Biogaserzeugung aus Klärschlamm setzt voraus, dass Co-Substrate aus Bioabfällen oder u.U. auch landwirtschaftlich erzeugter Biomasse hinzugefügt werden – das kann umweltethische Probleme verursachen, die wir bereits aus der Biogaserzeugung durch Landwirte kennen, etwa die Ausweitung von Monokulturen. Zudem stellen sich sozialethische Fragen etwa hinsichtlich der fairen Verteilung von Gewinnen und Kosten im komplexen Gefüge von (kommunalen) Kläranlagen-Betreibern, Bürger*innen, Co-Substrat-Erzeuger*innen, Biogasanlagen-Betreiber*innen etc. Was muss in dieser ebenso spannenden wie spannungsreichen Konstellation geschehen, damit die angestrebte Weiterentwicklung der Kläranlagen ein Teil dessen sein kann, was wir auch im ZGF eine „sozial-ökologische Transformation“ nennen?


Mit Impulsen und v.a. Fragen dieser Art kann die Philosophie helfen, umwelt- und sozialethische Probleme zu identifizieren, ethische Bewertungskriterien ins Spiel zu bringen, scheinbar selbstverständliche Wertungen und Annahmen zu hinterfragen und die unterschiedlichen Perspektiven und Interessen in den abwägenden Diskurs zu bringen. Auf diese Weise kann sie dazu beitragen, dass der so unangenehm und wertlos, manchen sogar ekelhaft erscheinende Klärschlamm nicht nur entsorgt, sondern als wertvolle Ressource für Umwelt und Mensch genutzt wird. 


 

Dr. Thomas Steinforth verantwortet das Projekt FLXsynErgy am Zentrum für globale Fragen der Hochschule für Philosophie in München und trug mit seinen Beiträgen zur "Philosophie des Klärschlamms" zum besseren gegenseitigen Verständnis der interdisziplinären Projektpartner bei.

 

Weiterführende Literatur


Demmerling, Christoph/Landweer, Hilge, Philosophie der Gefühle, Kapitel „Ekel“, Stuttgart 2007, 93ff.

Kolnai, Aurel, Der Ekel (1929), in: Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung Band X, 516-569.



Dieser Blogbeitrag erscheint erstmals am 18. Mai 2021 auf dem Blog Kontrapunkte.

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